ZUM START INS JAHR 2021
Je t’embrasse – Gedanken zum Neuen Jahr 2021
Der griechische Philosoph Diogenes von Sinope (413 bis 323 v. Chr.), bekannt als der in einem Fass Lebende, hatte den ihn besuchenden Feldherren Alexander der Große mit etwas sehr einfachem überrascht: so beantwortete er die Frage, womit er, Alexander, ihm dienen könne mit dem Satz: Geh mir nur ein wenig aus der Sonne!
Alexander der Große, Feldherr und auf dem Weg Persien zu erobern, war so beeindruckt von Diogenes, dass er – zitiert vom griechischen Schriftsteller Plutarch – seine lachenden Untertanen zurechtwies.
Immer den Blick freihalten
Als Menschen sind wir gewohnt und trainiert die Welt in unterschiedlichsten Farben zu sehen: wir können schwarzsehen, rotsehen oder uns eine rosarote Brille aufsetzen und wir können im Sinne der Drei Affen nichts mehr hören, sagen und sehen wollen.
Doch wohin wollen wir blind? Beklagt sich der einzelne nicht über die Mentalität der Schafe, der folgsamen Massen? Ist es „opportun“ JA zu sagen, wenn das Nein auf der Zunge liegt. Es mag empfehlenswert sein, das Nein zu verschweigen und der Mehrheit zu folgen. Doch wohin mit der Mehrheit? Welche Kritikfähigkeit besitzt diese in Bewegung? Ein Nein wird zur überhörten Minderheit und findet seinen Platz als Randgruppenphänomen.
Wenn Diogenes seinen Blick zur Sonne freihalten wollte, so ist das geradezu ein Aufruf an jeden Bürger, seine Augen und Ohren zu waschen und vor allem seinen Mund und die darin möglicherweise klebenden Worte auszuspülen.
Was bedeutet Denken
Als Journalist gab es in meiner Ausbildung eine Devise: Es gibt zu einer Meinung eine Gegenmeinung. Der soggenannte Advocatus Diaboli (Anwalt des Teufels) sollte immer mit am Arbeitsplatz sitzen um der Wahrheit zumindest einen Schritt näher zu kommen. Denn eine Meinung ist genauso wie die andere keine absolute. Denn nur aus unterschiedlichen Meinungen ergeben sich Synthesen, neue Blickwinkel. Wenn allerdings nur noch eine Meinung, die mit einem JA abzunicken wäre, Gültigkeit hat, dann bleibt das Denken stehen. Dann verlangsamt sich die Bewegung, dann wird das Sehen von der Müdigkeit eingeholt und die Augen schließen sich.
Das Gegenüber sehen: je t’embrasse
Das französische „Je t’embrasse“ – meist formuliert am Ende eines freundschaftlichen Telefongesprächs oder am Ende eines persönlichen Schreiben – bedeutet geradezu symbolisch „Ich umarme Dich“. – Wir alle kennen Freunde, die wir „früher“ mit einem Küsschen – ob nun einem, zwei oder gar drei (was wiederum von Region zu Region unterschiedlich ist) – begrüßt oder verabschiedet haben. Wir alle kennen dies verbindende einer Umarmung, das keine Worte braucht. Und wir kennen (das fast routinierte) eines begrüßenden Händeschüttelns. – Wie ich erfahren konnte, scheint hier ein ganz archaisches Verhalten in die Gegenwart mitgebracht worden zu sein: wir schnuppern so aneinander (*), wir riechen die wirkliche Stimmung im Gegenüber, das uns ja auf die Frage „Wie geht es“ dies abgelutschte „Gut“ antwortet.
Für das Jahr 2021 hoffe ich wieder auf die Möglichkeit mein Gegenüber „empfangen“ zu können.
Ich möchte diese Kälte eines Entfernt-Seins im Mindestabstand aufgetaut wissen. Dies Nicht-mehr-Kennen (oder erkennen Sie jeden, der Sie mit Nasen-Mundschutz begrüßt (*) abgelegt sehen. Ich möchte den Kommunikationsraum Stadt mit all seinen Aufenthaltsmöglichkeiten als Miteinander, als Zwanglosigkeit, als Begegnungsstätte erleben können. Möchte Räume mit Menschen betreten können. Möchte wieder die Grenzenlosigkeit zumindest als Möglichkeit auswählen können und tatsächlich die Menschen, die ich umarmen will, umarmen können.
Und am Ende sagen dürfen: Je vous embrasse! (Ich umarme Sie [alle] / Euch [alle]), Es ist zwar eine gewagte doch eine genauso optimistische Hoffnung. Ein Gedanke, der diesen Wunsch an den aktuellen Vorhersagen zum Corona-Lockdown einfach vorbeikicken möchte.
P.S. Das von mir gewählte Text-Foto ist gleichzeitig auch Titelfoto des mit Fotografien von Paula De Lemos illustrierten RE/MAX Jahreskalenders 2021 (ISBN 978-3-945656-06-8) und unterstreicht – ohne Worte – den Optimismus, mit welchem ein jeder das Jahr 2021 beginnen sollte.
(*) vgl. https://www.heise.de/tp/features/Warum-schuetteln-wir-uns-zur-Begruessung-die-Haende-3370567.html
Text: Christoph Maisenbacher – 1. Januar 2021
Foto: © Paula De Lemos